Ay´lyrinn, der Zaubergarten
Ay´lyrinn, der Zaubergarten, lag da im warmen Licht der ersten Sonnenstrahlen, die der Himmelsfürst über die schneegekrönten Berge sandte, die goldenen Hände des Lichtgeliebten, der seine Erdenbraut liebkosend erweckte, sanft ihre Grashänge entlang strich und schliesslich errötend in ihre üppige Mulden drang.
Über dem Tal der Himmelsblüte lag noch ein zarter Nebelschleier, der den Garten einhüllte und doch nur mehr durchtränkte mit Licht, und die aufsprühenden Tautropfen verwandelten ihn in ein einziges Funkenmehr. Der Bach Shiruillo, der sich durch Ay´lyrinns Lilienauen wand und in Wasserfallkaskaden zum nahen Dorf hinuntersprudelte, loderte glühend auf, wurde wieder zur Grossen Feuerschlange, wie einst in Uranfangstagen, als sie sich mit ihrem Schöpfungsstrom befruchtend in die Welt ergoss.
Unten in ihren Hütten lagen die Liuvis, die Geschwister des Himmels, noch alle in stillem Schlummer. Einzig Aldoraya, Tänzerin der Grossen Vermählung, war in der Dämmerung hochgestiegen und stand nun im Herzen des Gartens, dort wo alle Wege sich trafen, so, wie im Herzen der Grossen Weberin alle Wege sich treffen, um ihren tiefsten Sinn zu enthüllen.
Es war der Tag An´shurias, der Tag der Herbstwende, der Tag der zwei Gesichter: Zurückblickend im Jubel und in der Dankbarkeit der Erntefülle, voranschauend im Ernst und in stiller Hingabe an den kommenden Abschied. Die Natur war reich im Garten Ay´lyrinn, doch nie war sie von so überquellendem, sinnesbetörendem Reichtum wie zu jener Zeit des Jahres. Blumen in allen Farben und Formen entfalteten nochmals ihre ganze Pracht, während überall die Früchte des vergangenen Sommers der Vollendung entgegenreiften. Und doch war in all der Lebensfülle der Tod schon da, wartete im Schatten der Dinge darauf, als Bote der Grossen Weberin das Gesetz des heiligen Kreislaufs zu verkünden, zu erzählen vom Hinopfern der Blüte für die Frucht, und vom Opfer der Frucht, damit sich aus ihrem Samen neues Leben gebären kann.
Wie Aldoraya so stand in der Mitte des Gartens Ay´lyrinn, umflossen vom goldenen Morgenlicht, tief ein- und ausatmend in Ergriffenheit des Augenblicks, da kam in sie der Grosse Atem der Weltenschöpfung, und sie spürte, dass diese Herbstwende die Vorbereitung auf ein grösseres Hinopfern sein sollte, grösser den je für die Liuvis, die Geschwister des Himmels. Sie wusste, ihr Tal war eine Oase der Liebe und der Schönheit inmitten der schmerzhaft aus der Zeit der Mythen erwachten Menschheit, und all ihre Mächte der Heilung und des Wachstums würden die Liuvis nicht bewahren können vor der rohen Gewalt der Waffen, die in den äusseren Ländern herrschte. Einen langen, schweren Moment lang hielt Aldoraya ihren Atem an, als eine Schreckensvision ihren Geist überflutete: Schmerzpeinigende Bilder von zerbrannten Gärten, zerstörten Hütten und den geschändeten Leichen ihrer innig geliebten Seelengefährten. In Schmerz und Angst und Zorn erhob sie ihre Stimme zu den Himmeln: „Nein! Göttin, Gott, meine Engel in den Sphären – Nein! Ich bin bereit zu gehen, wenn es sein muss noch heute, doch nicht so! Wie kann, was in all dieser Liebe gesät und gehegt, in solcher Weise enden?“
In der umtosten Mitte ihres Seelensturms aber erwuchs allmählich ein anderes Bild; ein Lied, zart und viel zu leise, um den Lärm der Emotionen zu übertönen, und doch alles machtvoll durchpulsend und verwandelnd.
Was würden ihre Gefährten im Tal der Himmelsblüte sagen, wenn sie zu ihnen sprach von ihrer Schreckensvision? Was würden sie tun? Konnten sie ihr Schicksal irgendwie abwenden?
Aldoraya wusste es nicht. Doch was sie mit allen Fasern ihres Körpers zu spüren begann:
Dieser Herbstwendmorgen war ein grosser, weihevoller Augenblick , ein Knoten im Netz der Zeiten; Und wenn sie ihre schmerzenden Bande der Liebe nicht in Angst und Schicksalsrebellion erstarren liess, so konnte die Kraft des Schmerzes und die Macht der Liebe heute, an diesem Herbstwendetag im Tal der Himmelsblüte, ein Signalfeuer entzünden mit Strahlen, weit in zukünftige Welten hinein.
„Was ihr heute feiert,“ so sprach es aus ihrem Seelenkern zu ihr, „Was ihr heute feiert an diesem Tage An´shurias, welcher Herbstwende ist nicht nur für die Natur, sondern auch für die Erdenzeit der Geschwister des Himmels, alles was ihr heute tief aufnehmt in Euren Herzensschrein, das wird den Menschheitswinter als Seelensamen überstehen, um in der Wärme des Frühlings in neuer Schönheit zu keimen.“
Die in ihr aufflammende Liebe in nie gekannter, fast schmerzhafter Intensität, traurig und beglückend zugleich, brachte sie im Geiste zurück zum morgenfrühen Erwachen im Kreis ihrer Hausgefährten, in stiller Erwartung und wonnevoller Ruhe hinhorchend auf das Atmen ihrer Freunde: Ellili´s Hauch, fast unhörbar zart, Chaons kraftvolles Sammeln und Verströmen, Mirreo, der selbst noch im Schlafe noch von seiner Blumenfee zu singen schien, und Azuria, ihre Herzensschwester, ihr weicher Atem voll Hingabe an das Mysterium des Traums. Ihr Seelenodem hob sich wie Schwanenflügel in den Raum und senkte sich wieder im Rhythmus ihrer inneren Gezeiten.
Mit dem Schwinden der letzten Sterne war Aldoraya aufgestanden und herausgetreten ins Freie. Die Engel der Frühe woben und wirkten in der taufeuchten, duftenden Morgenluft und im Gesang der Vögel, der besonders machtvoll anschwoll zu dieser Stunde, mitwirkend an der Weihe dieses Herbstwendetages. Als sie durchschritt die Pforte des Gartens Ay’lyrinn, da wogten immer noch die Nebel wie Erdenträume durch die morgengraue Welt, und erst ganz leise erschien am Horizont ein zartes Röten., und doch war da in der Luft eine seltsame Spannung, eine Aufregung, ein Hoffen und Bangen… ; Auf der Erde huschten die Gnomen und Wichte, und die Windgeister brachten mit sich aus den Bergeshöhen einen mächtigen, alles durchdringenden Klang, als hätten die Felsriesen mit einem Schlag auf den Gong der Welten das Kommen des Königs der Berge angekündigt. Als Aldoraya dann ging durch die von blühenden, fruchtenden Hecken umsäumten Terrassen des Zaubergartens, da ging sie nicht die Pfade der Sonne, die schnellen Wege des arbeitsamen Tages, sie ging die Wege des Mondes, verschlungen mäandrierend in immer neue Räume hinein, ein geheimes Labyrinth, gewoben nach uralten Mustern. Selbst die vertrautesten Orte schienen ihr von einem geheimnisvollen, nie gekannten Zauber erfüllt, und ihre staunende Seele nahm alles in sich auf, und verflocht es, wie zu einem jener Tausend-Blüten-Kränze, mit denen die Liuvis bei Hochzeiten die Braut schmückten.
Der Blumenhain, wo sie mit ihrer Freundin und Herzensschwester hinging, um den ersten Sonnwendkranz zu flechten. Viele Blumen wuchsen da, deren Seelenengel sie in ihrem Leben besonders begleitet hatten: Firluin, der Feuerstern, Melluan, der Wasserstern, Bote aus träumenden Welten, Anviata, Geliebte der Nacht, Liéna, die Träne der Göttin, …
Die Gärten der Fruchtbarkeit, wo die Menschen vom Dorf in frostigen Frühlingsmorgen hingingen, um den Boden für die neue Saat zu bestellen. Sie rieben einander die kältestarren Glieder und sangen im Rhythmus des Hackens die Lieder des Erwachens.
Tiefblau unter der alten Erle, Alluan, der Schwanenteich, der dunkle Spiegel der Träume, umsäumt von Lilien und im Winde flüsterndem Schilf;
Oruo, der Garten der Früchte, ein Mandala der überquellenden Lebensfülle, getaucht in die goldenen Farben des frühen Herbstes;
Bei den Zwergenhöhlen, zwischen Findlingen und knorrigen Eichen sich emporwindend, der steinerne Stieg zum Garten der Kristalle, zu den Hütern der Sternenbotschaft;
Etwas abgelegen in Waldesstille, hinter dem Tor der Moosriesen, der Garten des Einhorns, Schoss der heiligen Quelle, gesegnet mit den grössten der Wunder…
Und schliesslich jener Liebeshain, in dem Aldorayas Erdendasein begann, wo sie niederkam aus den Sternenweiten in den Kelch der physischen Form, gerufen von der ekstatischen Vereinigung ihrer Eltern und jener dreifachen Verbindung ihrer Seelen, aus der sie auch ihren ersten Namen empfing: Al-dor-raya, die im goldenen Strahl Geborene, Tochter des flammenden Sterns.
Und nun stand sie da im Herzen des Gartens, im Funkenmeer des taugekrönten Herbstwendemorgens, und es zerriss ihr fast das Herz in der Brust ob den zwei Visionen und dem Abgrund dazwischen: Der Tausend-Blüten-Kranz aus all den Orten der Schönheit und des Zaubers im Garten Ay´lyrinn, verbunden mit der Erinnung freudvoll-innigen Zusammenlebens im Kreis der Geschwister des Himmels, und andererseits die Vision ihres schrecklichen, grausamen Endes. Ihr Herz –wie konnte es so gross sein, um all das zu fassen? Ihr blieb nur die Wahl: Es zu umpanzern, mit eisernen Toren zu verschliessen vor aller Nähe und allem Schmerz, oder es noch mehr zu weiten, über alles sterbliche Mass hinaus, bis zum Zeiten und Welten verbindenden Schöpfungsquell. Als sie so dastand, die Arme ausgebreitet, als wolle sie die Welt umarmen, da war es, als bilde sich im den Garten umhüllenden weiss-goldenen Dunst ein feines Gewebe aus Licht, wie ein zartes Wurzelwerk, das Aldorayas liebesglühender Aura entsprang und allmählich den ganzen Garten, ja, das ganze Tal umfing. Aldoraya begann in Ekstase zu zittern, und schliesslich, als sie es nicht mehr aushielt, warf sie die Arme empor und sandte den stummen Ruf zum Himmel: „Gott, Göttin, Schickksalsweberin, Hüterin der Sphären, nimm mich hin! Nimm mich hin zu Dir, mit all meiner Freude und all meinem Schmerz, und mit all dem was meine Fäden der Liebe umspannen. Nimm mich auf mit meiner Liebe in Deine Grosse Liebe, nimm mich auf mit meinem Herz in Dein Grosses Herz, den meines ist zu klein, um alles zu umfassen. Nimm es auf und lass geschehen mit uns, was geschehen soll, damit sich das Weltenschicksal erfülle!“
Da formte sich um sie eine mächtige Säule aus goldenem Licht, empor reichend in die höchsten Himmelssphären und hinunter in den tiefsten Erdengrund, wie der Weltenbaum alles miteinander verbindend. In ihr war ein beständiges Wogen und Strömen von Myriaden von Wesenheiten: Aus dem Erdenschoss emporzüngelnde Feuerwesen, sehnsuchtsheiss, und als alles-segnender Sternentau herniederflutende Lichtwesen, sich niedersenkend von den Himmeln auf die empfängliche Erde. Und in jener durchwogten und durchströmten Lichtsäule, in jener Manifestation des Zeiten und Welten verbindenden Lebensbaumes, da empfing Aldoraya, die Tänzerin der grossen Vermählung, ihre dritte Vision: Es war die Vision vom grossen Zyklus des Menschengeschicks; von den grausamen Stürmen des Weltenherbstes und der bitteren Kälte des Weltenwinters, und wie doch alles hinstrebte zum Entfalten und Aufblühen des Menschen im neuen Weltenfrühling. Sie sah in einem letzten, von Jubel erfüllten Bilde, wie das, was in kleinen Oasen - wie ihrem Tal der Himmelsblüte – an Samen in den Ätherkörper der Erde gelegt wurde, nun, in den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne, überall zu keimen begann, wie aus den Wüsteneien, welche die Menschen in ihrem Seelenwinter hinterlassen hatten, überall zauberdurchwirkte Paradiesgärten und Werkstätten der Schönheit entstanden, und wie so Ay´lyrinn, der Zaubergarten, auferstand aus den Wogen der Zeit, und nicht mehr nur fragile Insel war im sturmdurchpeitschten Ozean, sondern eine alles menschliche Tun durchwirkende, befruchtende und segnende Kraft.
Aldoraya, tief ergriffen von der Macht und Herrlichkeit jener Vision, getaucht ins goldene Licht des Weltenbaumes, sie hörte den Gesang der Erde, und sie hörte den Gesang des Himmels. Alles in der göttlichen Schöpfung war Ausdruck jener uralten Sehnsucht von Himmel und Erde, sich ganz miteinander zu vermählen. Sie aber, die Liuvis, Bewohner des Tals der Himmelsblüte und Hüter des Gartens Ay´lyrinn, sie waren das Versprechen: Das Versprechen, dass einst, in fernen Zeiten, wenn die Menschheit auferstanden aus der Phase der Trennung, der Liebestanz von Erde und Himmel im und durch den Menschen seine Erfüllung findet, dass die grosse Vermählung in einer neuen Menschheitskultur der Freude und der Schönheit, des Friedens und der Ekstase, der Liebe und des Lebenszaubers, vollendet werden wird.